Die Ansage verspricht viel: Huawei will die berühmte «unvollendete Symphonie» von Schubert mit Hilfe von künstlicher Intelligenz endlich zu Ende geschrieben haben. 197 Jahre lang war das Stück nämlich unvollendet geblieben, da der Komponist nur knapp drei Sätze geschrieben hatte, bevor er sich der 9. Symphonie zuwendete. Bis zu seinem Tod 1828 blieb die 8. Symphonie unvollendet.
Nun wartete das vollendete Oeuvre darauf, in der traditionsreichen Cadogan Hall in London erstmals einem Publikum vorgespielt zu werden. «Techgarage» wurde Anfang Februar von Huawei nach London eingeladen, um sich das Stück anzuhören.
Natürlich waren die Erwartungen hoch: Kann ein Computer die menschliche Improvisationsgabe imitieren? Werden wir den Unterschied zwischen Schuberts Genie und KI-Komponist bemerken? Und wird unsere Musik künftig durch Algorithmen definiert, statt dass sie von menschlichen Komponisten auf Papier gebracht wird?
Um dies realistischer einschätzen zu können, müssen wir aber erst einmal einige Eckwerte definieren:
Wann ist Intelligenz «künstlich»?
Wenn sich die Tech-Gemeinde in einem Punkt einig ist, dann darin, dass künftig die meisten Geräte über eingebaute «künstliche Intelligenz» – KI – verfügen werden. Ein Device ohne KI wird künftig so isoliert sein wie heutzutage ein Mobilgerät ohne Mobilfunk- oder Bluetooth-Verbindung.
Und wenn noch in einem Punkt Einigkeit herrscht, dann darin, dass man noch kein Konzept davon hat, wie man dem Nutzer KI anpreisen möchte – geschweige denn, einer breiten Nutzerbasis die Vorteile und Arbeitsweise dieser vielgepriesenen Technologie zu erklären.
Das liegt in der Natur der Sache: Denn «künstliche Intelligenz» gibt es in diesem Sinne noch gar nicht. Wir haben bloss unsere Computer darauf trainiert, einige Programmzeilen schnell und effizient zu wiederholen. Alles, was ein Computerchip bisher macht, ist, Teile des menschlichen Genies zu reproduzieren – und manchmal sogar leicht abzuändern. Eindrücklich bewiesen wurde das bei Googles «Deep Mind»-Projekt, bei dem die «Alpha Go»-Software sich selbst so lange im klassischen Brettspiel «Go» trainierte, bis sie genügend Datenpunkte gesammelt – und damit ihren Algorithmus verbessert hatte – um auch gegen die besten menschlichen Spieler zu bestehen. Und hier fängt die Grenze an, zu verschwimmen: Wenn ein Computer mittels «Machine Learning» beginnt, seine Algorithmen selbständig zu verändern und zu verbessern, um künftig eine Aufgabe effizienter zu erledigen: Können wir dann schon von künstlicher Intelligenz reden?
Huaweis Vision der künstlichen Intelligenz
Nun aber zurück in den Gadget-Alltag: Ein Unternehmen, das sich in den letzten Monaten stark mit dem Begriff «AI – Artificial Intelligence» positioniert hat, ist Huawei. Nach dem Motto «Fake it ‘til you make it», schreckt der chinesische Elektronikhersteller nicht davor zurück, seine Geräte und Dienste mit einer Portion vermeintlicher «KI» zu optimieren. Die Vision wird dabei klar kommuniziert: «Huawei believes in the power of AI, bringing technology and human expertise together to push the boundaries of what is humanly possible.» Also, «mit einer Verschmelzung von Technologie und menschlicher Kompetenz die Grenzen des Möglichen neu zu definieren».
Bilder werden besser mit KI
Begonnen hat Huawei mit KI bei der Optimierung von Bildern, die Nutzer mit ihren Smartphones aufnehmen. Zu diesem Zweck fand 2017 mit dem Mate 10 erstmals eine NPU – eine «Neural Processing Unit» – den Weg in ein Huawei-Handy. Der Chip sollte dabei die Rechenleistung beisteuern, damit das Gerät erkennen konnte, welche Objekte sich auf einem Bild befinden. Entsprechend wurden dann Kamera-Einstellungen automatisch angepasst: Bei einer Landschaftsaufnahme wurde der Himmel blauer eingefärbt, die Farben bei einem Sushi-Foodpic stärker hervorgehoben oder ein Portraitbild automatisch optimiert, wenn ein Gesicht erkannt wurde.
Huawei spann die Geschichte weiter und baute für den Mobile World Congress 2018 zu Demonstrationszwecken ein Auto so um, dass dieses umgehend bremste oder das Steuer herumriss, wenn es durch die Kamera des Mate 10 Pro die Umrisse eines Hundes, Fahrrads oder anderen Gegenstandes auf einer Teststrecke wahrnahm. Weitergeführt wurde die KI-Bilderkennung danach in den darauf folgenden Modellen wie dem Huawei P20 (Pro) oder jüngst im Huawei Mate 20 Pro, das in unserem Test exzellent abgeschnitten hat.
KI als Gebärdensprache-Dolmetscher?
Im Winter 2018 zeigte Huawei mit «Story Sign» dann ein weiteres Einsatzgebiet ihrer angeblichen KI: Die App sollte durch die Kamera im Smartphone Texte in Kinderbüchern erkennen und diese über einen Avatar in Gebärdensprache übersetzen.Damit würde das Erlernen dieser essentiellen Sprache für gehörlose Kinder und deren Familien vereinfacht.
Impliziert wurde dabei, dass ein Grossteil der Übersetzungsarbeit durch den Huawei-eigenen Algorithmus übernommen würde.
Und wäre es in Zukunft gar möglich, jegliche Texte durch die Handykamera zu übersetzen? Klar ist: Gebärdensprache ist komplex, kennt grosse regionale Unterschiede und passt sich jeweils auch dem Kontext der Erzählung an. Deshalb ist auch eine Simultanübersetzung zum jetzigen Stand der Technik nicht möglich: Was Huaweis Software stattdessen momentan noch macht, ist einen bestimmten Textblock im Buch zu erkennen und dazu die passende, abgespeicherte Avatar-Aufnahme abzuspielen. Denn jede neue Publikation muss momentan noch durch menschliche Dolmetscher übersetzt werden.
Das hat zur Folge, dass im deutschsprachigen «StorySign»-Katalog bisher auch drei Monate nach dem Launch im Dezember 2018 erst ein Titel verfügbar ist: «Peter Hase: Ein Guckloch-Abenteuer». Auf Anfrage bestätigt die Huawei-Presseabteilung in der Schweiz, dass weitere Titel bereits in Vorbereitung seien. Von einer künstlichen Intelligenz – die ja bekanntlich nie ruht – hätten wir uns aber trotzdem ein Bisschen mehr Produktivität und Ausdauer erwartet.
Der KI-Komponist von Huawei
Und nun – an diesem nebligen Februarabend in London – soll mit der Vollendung der berühmten «Unfinished Symphony» ein weiteres Kapitel aufgeschlagen werden: Denn Improvisationsgabe ist noch immer ein heiliger Gral bei der Entwicklung von KI. Und genau beim Komponieren eines klassischen Musikstücks ist diese Gabe besonders gefordert.
Wie also gedenkt der Handyhersteller dies umzusetzen?
Gleich zu Beginn der Veranstaltung in der altehrwürdigen Cadogan Hall werden denn auch die Erwartungen etwas gedämpft: Das Stück, das wir bald zu hören bekommen, wurde nicht 1:1 von einem smarten Chip auf einem Handy geschrieben. Vielmehr wurden dem Huawei-Algorithmus Schuberts Takte der ersten beiden Sätze der «8. Symphonie» so lange vorgespielt, bis der Machine Learning-Algorithmus ein Muster in Klangfarbe, Tonfrequenz und Takt gefunden hatte – ähnlich, wie Huawei seine «Master AI»-Bilderkennung trainiert.
Basierend darauf entwickelte der Algorithmus weitere verwandte Tonkombinationen und Melodien. Diese wurden daraufhin vom bekannten Komponisten und Emmy-Gewinner Lucas Cantor ausgewertet, wobei die passendsten Tonstücke übernommen und von ihm händisch zu einer Komposition zusammengefügt wurden, die von einem klassischen Orchester gespielt werden konnte.
Entsprechend gibt auch Huawei zu, dass dies nicht die «definitive» oder «abschliessende» Version der Symphonie sei, sondern vielmehr «eine einzigartige Variante» aus dem Zusammenspiel von KI-Technologie, kombiniert mit menschlicher Expertise.
Als Journalist mit Tech-Hintergrund erlaube ich mir hier kein Urteil zur Qualität der gespielten Version. Kenner von klassischer Musik zeigten sich vom Resultat – besonders vom vierten Satz – aber relativ unbeeindruckt, einige nannten das Resultat «Filmmusik» und beschrieben es als «scheppernd» und auch dem ungeübten Zuhörer fielen die akustischen Parallelen zu einer «James Bond»-Verfolgungsjagd viel eher auf als die einer logischen Fortsetzung der ersten beiden Sätze.
Fazit: «Fake it ‘til you make it»
Dass Huawei mit ihren Geräten und Diensten grosses leistet, will ich nicht abstreiten. Die Firma aus Fernost bringt frischen Wind in einen gesättigten Markt und rüttelt am Status Quo, der von bisherigen Smartphone-Herstellern gesetzt wurde. Dass KI dabei im Zentrum ihrer Anstrengungen steht, ist für die künftige technische Entwicklung auch absolut zentral. Momentan aber wird der Begriff der «künstlichen Intelligenz» von Huawei noch sehr freizügig und mit einer gewissen künstlerischen Freiheit gebraucht, denn Machine Learning findet auf Mate 20 Pro und Co. offenbar noch nicht konsequent statt.
Dass der Einsatz von Machine Learning und künstlicher Intelligenz laufend hilfreicher für den Nutzer wird, steht ausser Frage. Nur braucht der Algorithmus bei Huawei momentan noch sehr viel menschliche Unterstützung – und das spricht zum jetzigen Zeitpunkt mehr für das personelle Talent, das der chinesische Technologiekonzern zusammenbringen kann, als für seine Fortschritte im Feld der künstlichen Intelligenz.
[jwplayer dKBv7lri-9UjpoWME]